ERASED - der verbotene Tag -
ein Roman von U. Balzer, Leseprobe

 

     


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Als sie kurz aufschaute, sah sie es hinweghuschen. Es war nur eine schnelle, kurze Bewegung, welche sie wahrnahm, doch diese Bewegung war unverkennbar.

Sicher, vielen anderen wäre dies gar nicht aufgefallen, doch Sarah war eine besonders aufmerksame Frau. Ihr entging so leicht nichts. Sie fand jede Münze auf dem Boden, bemerkte jede frische Blüte, hörte die Vögel zwitschern, selbst wenn um sie herum das Chaos tobte. Und schlussendlich war sie noch nie in einen Hundehaufen getreten. Dies verdankte sie nicht etwa jahrelanger Übung städtischen Spießrutenlaufens, sondern eben jener außergewöhnlichen Wahrnehmung, die sie eigentlich von der großen Masse unterschied und zu etwas Besonderem machte.

Sarah wusste davon nichts. Sie war schließlich Sarah und nicht Julia oder Miriam. Sie wusste nicht, wie andere ihre Umwelt wahrnahmen, wusste nicht dass sie eine Gabe hatte. Im Gegenteil. Manchmal dachte sie sogar, sie sähe Dinge, die gar nicht da sind, weil niemand außer ihr etwas zu bemerken schien. Es hatte sogar schon Tage gegeben, an denen sie glaubte den Verstand verloren zu haben. Und ein solcher Tag war heute.

Etwas huschte hinweg. Kaum zu erkennen, mehr ein Luftzug als Materie. Sarah kniff die Augen zusammen, ungläubig, verwirrt. Sie versuchte sich auf die Bewegung zu konzentrieren, bemühte sich zu fokussieren, doch es gelang ihr nicht. Die Bewegung war einfach zu unscheinbar, zu schnell vorüber.

Sie blickte umher, beobachtete die übrigen Gäste des Cafes, blickte auf das Personal, doch keiner zeigte eine Reaktion ähnlich der ihren, niemand, der verwundert umherblickte so wie sie. Schweiß trat ihr auf die Stirn, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Eine gewisse Panik machte sich in ihr breit. Sarah atmete tief ein und wieder aus, zwang sich zur Ruhe. Sie hatte solche Momente zuvor durchlebt, doch nie war es so intensiv gewesen wie heute.

Langsam kehrte die gewohnte Besonnenheit in sie zurück. Sie blickte noch einige Minuten im Raum herum, beobachtete, wie die Mutter am Nebentisch ihr Kind stillte, sah den Kellner Geschirr in die Küche reichen und blickte durch die großen Fensterscheiben des Cafes nach draußen auf das bunte Treiben im Geschäftsviertel ihrer Heimatstadt.

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und ihre Verwirrung war vergessen. Alles schien in Ordnung. Und so widmete sie sich wieder ihrem Buch, das sie noch immer in der Hand hielt, den Daumen als Buchzeiger benutzend. Sie schlug die Seiten auf, die sie gerade gelesen hatte, als diese Bewegung sie in ihrer Lektüre unterbrach. Doch diese Seiten waren nun leer.

 
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Die gesunde Röte ihres Gesichts wich einer Blässe ähnlich dem Weiß der Seiten auf die sie starrte. Sie zitterte und begann hektisch durch das Buch zu blättern auf der Suche nach Buchstaben und Worten, doch der komplette Inhalt schien verschwunden. Nichts von den bisher gelesenen 127 Seiten war noch vorhanden und nichts von den noch fehlenden 283. Da waren nur noch blanke Blätter, nicht einmal mehr Seitenangaben.

Sarah traute ihren Augen nicht und schlug zitternd das Buch zu, um festzustellen, dass nicht alle Buchstaben verschwunden waren. Der Einband trug noch immer die vertraute Schrift: "Zeiten und Gelegenheiten", "ein Roman von Erich Ludger Chevalez". Chevalez war ein relativ berühmter Schriftsteller, der schon einige Male die Bestsellerlisten angeführt hatte. Nun war der Inhalt seines Romans einfach verschwunden. Nadine lief nicht mehr durch die Straßen von Paris auf der Suche nach ihrem geliebten Stefane, der ihren kleinen Hund entführt hatte, um sie zurück zu sich zu locken, nachdem sie ihn im Streit verlassen hatte. Sarah würde nun nie erfahren, ob Nadine und Stefane wieder zusammenfanden. Es sei denn…. es sei denn… ja es sei denn….

Sarah sprang von ihrem Stuhl auf, packte das Buch mit schnellen Handgriffen geschickt in ihren Rucksack und legte einen zehn Euro Schein auf den Tisch, um den Kaffee zu bezahlen, den sie getrunken hatte, während sie gemütlich in Chevalez' Buch las. Zwar hatte der Kaffee nur einen Bruchteil gekostet, doch stand ihr der Sinn nicht danach auf die Bedienung zu warten. Sie hatte einen Plan und verließ noch immer etwas verwirrt aber gefasst das Cafe. Dann steuerte sie schnellen Schrittes auf die nahe gelegene Buchhandlung zu, in der sie schon jedermann kannte, weil sie beinahe wöchentlich dort die Neuerscheinungen und die Bestsellerlisten durchstöberte, um dann doch nur selten wirklich ein Buch zu kaufen. Auch Chevalez' Buch hatte sie hier nicht kaufen wollen, doch war die Warteliste bei der städtischen Bücherei sehr lange und hätte ihren Geduldsfaden mächtig überstrapaziert.

Doch da wo noch vor zwei Tagen ein Riesenstapel des Romans lag, war nun nichts mehr von diesem Buch zu sehen. Stattdessen glänzte dort Danielle Wellers Kriminalstück "Durch die Wolken". Sarah hatte von dieser Autorin noch nie gehört und war verblüfft von einer offensichtlichen Newcomerin in der Literaturbranche eine so augenscheinliche Präsentation vorzufinden, die offensichtlich sogar den großen Chevalez verdrängt hatte, denn "Zeiten und Gelegenheiten" war nirgends zu sehen. "Vielleicht ist das Buch ausverkauft" dachte Sarah, "schließlich war es ganz oben auf der Bestenliste". Doch sie bezweifelte dies bereits bevor sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte.

Sarah blickte sich in der Buchhandlung um, aber sie konnte nirgends eine Ausgabe des verschwundenen Buches finden. Und der Blick auf die aushängenden Bestsellerlisten bestätigte nur den Verdacht, der schon in ihrem Kopf keimte. Chevalez war verschwunden, genauso wie die Schrift von den Seiten in "Zeiten und Gelegenheiten" verschwunden war. "Das muss ein schlechter Traum sein" dachte sie, "das kann nicht sein." Weiter wollte Sarah nicht denken, denn sie war kurz davor, sich selbst für verrückt zu erklären. Ihre letzte Hoffnung war die Verkäuferin. Doch auch sie wusste nichts von Chevalez, hatte nie von ihm gehört. Und als Sarah zum Beweis seiner Existenz das nur noch auf dem Einband beschriftete Buch zückte, um festzustellen, dass sie Danielle Wellers Kriminalstück in Händen hielt, hatte sie nur noch einen Gedanken: " Ich muss aufwachen, ganz schnell."

 
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Doch es gab kein Erwachen, denn sie war schon wach. Es war kein Traum, aus dem sie entfliehen konnte. Sie wusste nicht mehr, wie sie nach Hause gekommen war, wusste nicht mehr, wie lange sie herumgelaufen war, welchen Weg sie genommen hatte, ob durch den Park oder direkt über die Hauptstraße, wusste für kurze Zeit nicht einmal mehr ihren Namen. Sie war in einer Art Trance, als sie vor ihrer Wohnungstür stand und wie ein Automat den Schlüssel im Schloss drehte. Doch als ihr Blick auf das Namensschild neben der Klingel fiel, kam die Erinnerung zurück. Schiller stand da. S.R. Schiller. Ja das war ihr Name, Sarah Ricarda Schiller.

Sie öffnete die Wohnungstür, legte ihren Rucksack auf der kleinen Kommode am Eingang ab, schloss die Tür hinter sich, hing ihre Sommerjacke an den Kleiderhaken, schlüpfte aus ihren Schuhen, ohne diese zu öffnen, und schleppte sich schweren Schrittes in ihr Wohnzimmer, um sich wie ein nasser Sack auf das kleine graue Sofa fallen zu lassen. Sie war erschöpft, wahnsinnig erschöpft, als hätte sie einen 24-Stunden Marathon hinter sich, wobei sie für gewöhnlich bereits nach dreißig Minuten Joggen außer Puste war. Alles schien ihr falsch, verkehrt, surreal. Das Schicksal schien ihr einen furchtbaren, bösartigen Streich zu spielen und sie wusste weder ein noch aus und traute ihrem eigenen Verstand nicht mehr.

Noch bevor sie die Kraft fand den Fernseher einzuschalten schlossen sich ihre Augen und es umfing sie Dunkelheit. Sie versank in einen tiefen Schlaf. So tief, dass jeder, der sie so vorgefunden hätte, mit Sicherheit nicht geglaubt hätte, dass in diesem Körper noch Leben steckt.

 
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Ein Sonnenstrahl fiel durch das leicht geöffnete Fenster auf ihr Gesicht und kitzelte sie wach. Die Vögel sangen ihre Lieder um die Wette und ein wunderschöner Frühsommertag schien sich anzukündigen. Sie fühlte sich erholt und entspannt und ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie zehn Stunden geschlafen hatte.

Die Ereignisse des vergangenen Tages erschienen ihr nun noch unwirklicher als am Tag zuvor. Sarah rieb sich ihre verschlafenen Augen. Noch immer die Kleidung vom Vortag am Leib rappelte sie sich vom Sofa hoch und ging ins Badezimmer. Auf dem Weg dorthin fiel ihr Blick auf ihren Rucksack, den sie im Flur auf der Kommode abgestellt hatte. Sie öffnete ihn und nahm Danielle Wellers Kriminalstück "Durch die Wolken" heraus. Das Buch erschien ihr vertraut. Sie begann darin zu blättern und stoppte am Ende des dritten Kapitels. Ja dieses hatte sie zuletzt gelesen.

Fortsetzung folgt ...

 

© Ursula Balzer